Die Saatgutwirtschaft trägt hier eine besondere Verantwortung, denn sie ist es, die mit der beständigen Weiterentwicklung hin zu zukunftsfitten Sorten stabile Erträge und eine hohe Qualität des Erntegutes auch bei Wetterextremen hervorbringt. Wie man diesen Mammutaufgaben vonseiten der Zuchtorganisationen gerecht werden kann, darüber diskutierten die Branchenexperten heute beim traditionellen Hagelversicherungs-Webinar mit knapp 400 Teilnehmern. „Der Klimawandel mit steigenden Temperaturen und mangelndem Niederschlag setzt viele Sorten zunehmend unter Stress. Das Sortenspektrum im Pflanzenbau wird sich nachhaltig in Richtung hitze- und trockenheitstoleranter Sorten verändern müssen. Das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen vonstattengeht und der die Forschung mit neuen Wegen fordert, wie sie etwa in Oberösterreich durch Landesrat Max Hiegelsberger gemeinsam mit der Saatbau Linz beschritten wurden“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Hagelversicherung und Boku-Uniratsvorsitzende, Kurt Weinberger, in seiner Einleitung. Er weist auch auf den Erhalt der begrenzten Ressource Boden hin: „Wir werden in Zukunft stabilere Erträge mit weniger Ressourceneinsatz brauchen. Gerade die Corona-Krise zeigt uns, wie abhängig und verletzbar wir sind - Stichwort sinkender Selbstversorgungsgrad. Ernährungssicherheit kann man aber nicht importieren. Wir müssen national die Voraussetzungen schaffen, um die Bevölkerung im Krisenfall ernähren zu können. Daher gilt es, die Ressourcen zu schützen und in die Forschung zu investieren.“
Pflanzenzüchtung im europäischen Umfeld
„Pflanzengenetisches Material ist in Europa und in fast allen Ländern der Welt reguliert, Getreide, Mais sowie Öl- und Eiweißfrüchte müssen ein hoheitliches Zulassungsverfahren durchlaufen. In der EU sind gegenwärtig zwölf Richtlinien für die verschiedenen Kulturarten in Kraft, die meisten aus 1966“, berichtete Michael Gohn, Geschäftsführer der Probstdorfer Saatzucht GesmbH & Co KG, Saatgut Austria-Obmann und Vizepräsident der Europäischen Saatgutvereinigung (Euroseeds). Das österreichische Saatgutgesetz aus 1997 setzt die EU-Richtlinien um.
„Der europäische Saatgutmarkt beträgt zirka 10 Mrd. Euro, die Anteile der Hauptkulturen machen bei Getreide 39%, Mais 26%, Kartoffeln 14% und bei Gemüse 11% aus. Stärkste Getreidefirmen in der EU sind die französischen Genossenschaften RAGT und Limagrain, bei Mais führen Corteva (Pioneer) und Bayer (Monsanto). Eine Neufassung der Saatgutgesetzgebung der Kommission wurde vom Europäischen Parlament abgelehnt und von der Kommission zurückgezogen. Die neu entwickelten Züchtungsmethoden wurden vom Europäischen Gerichtshof als GMO eingestuft, wodurch die Anwendungen in Europa stark eingeschränkt wurden. Die Diskussion über die Saatgutgesetzgebung ist weiter im Gange“, so Gohn.
Pflanzenzüchtung im Wettlauf mit dem Klimawandel
„Jede wirksame Maßnahme, die dazu beiträgt, das Klimaziel (nicht mehr als 1,5 °C Erwärmung) zu erreichen, ist umzusetzen, um den Schaden, der sich ankündigt, zumindest zu begrenzen. Basierend auf Modellrechnungen ist mit einer Abnahme der Produktivität der pflanzlichen Produktion in den großen Ackerbaugebieten Österreichs zu rechnen. Die Herausforderungen durch den Klimawandel treffen gleichzeitig auf politische Forderungen, mit dem Ziel, Dünge- und Pflanzenschutzeinsatz deutlich zu reduzieren und die generelle Skepsis von Teilen der Bevölkerung gegenüber Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion“, unterstrich Hermann Bürstmayr, Leiter der Institute für Pflanzenzüchtung und für Biotechnologie an der Boku. Spezifische Herausforderungen seien die Zunahme von Hitze- und Trockenperioden in den kritischen Wachstumsphasen, Wetterkapriolen und Witterungsschwankungen sowie Änderungen bei Schädlingen und Pflanzenkrankheiten. Die Züchtung könne durch Selektion von Sorten in 'real-time' auf sich ändernde Umweltbedingungen reagieren und regional angepasste Sorten entwickeln. Züchtung könne aber „keine Wunder vollbringen und die Auswirkungen des Klimawandels nicht kompensieren“.
Risikobewertung bei der Sortenzulassung
„Ziel der Sortenzulassung ist die Verfügbarkeit standortangepasster Züchtungen zur Minderung von Anbaurisiken unter Beibehaltung einer geeigneten Produktqualität. Gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften auf EU- und nationaler Ebene sind Sortenkandidaten in mehrortigen und mehrjährigen Versuchen im direkten Vergleich mit aktuellen Sorten in ihren Anbau-, Krankheits- und Qualitätseigenschaften nach anerkannten Methoden zu beurteilen. Regionale Unterschiede in der Sortenreaktion werden berücksichtigt“, erläuterte Klemens Mechtler, Leiter der Abteilung für Nachhaltigen Ackerbau in der AGES. „Fast alle Sorteneigenschaften sind von der Witterung beeinflusst. Angesichts des Klimawandels sind Eigenschaften, wie Raschheit im Jugendwachstum, Frühreife, Widerstandskraft gegenüber Lagerung, Krankheiten und wärmeliebenden Schaderregern, Toleranz gegenüber Wassermangel und Hitzestress und das Abreifeverhalten bei im Herbst reifenden Kulturarten, im Hinblick auf die Nutzung längerer Vegetationszeiten bedeutsam“, so der Experte.
Umstieg von Sommer- auf Wintergetreide zu empfehlen
„Als Anpassungsstrategie an den Klimawandel ist bei Getreide der Umstieg von Sommer- auf Wintergetreide zu empfehlen sowie innerhalb der einzelnen Kulturarten der Anbau von frühreifen Sorten, die aus der Züchtung vermehrt angeboten werden“, betonte Johann Birschitzky, Geschäftsführer der Saatzucht Donau. „Stresstoleranz von Getreide lässt sich vor allem in heißen, trockenen Regionen wie Türkei, Rumänien, Ungarn etc. sicher testen. Genomische Selektion ist eine wertvolle Hilfe, um besonders stresstolerante Zuchtstämme zu identifizieren. Sojabohne ist deutlich besser hitzeangepasst und hat in Österreich und Europa eine große Zukunft“, so Birschitzky. Die Saatzucht Donau ist derzeit europaweit führend in der Sojabohnenzüchtung.
Trends und Innovationen als Züchtungsziele
„Zu den Trends und Innovationen im Bereich der Pflanzenzüchtung zählt auch eine Zunahme der Winterformen von Fruchtarten wie etwa der Winterackerbohne und Wintererbse, dem Winterhafer und Winterdurum oder der Winterzuckerrübe. Ernährungsphysiologisch bewegt sich der Trend in Richtung wertvolle Körnerfrüchte wie etwa Omega-3-angereichertem Soja oder Gemüse mit gesundheitsfördernder Wirkung. Aufgrund des fortschreitenden Klimawandels gilt es auch im Bereich der Trockenheitstoleranz, immer resistentere Sorten bei den Haupt-Kulturarten zu züchten“, erklärte Johann Blaimauer, Bereichsleiter für Saatgut und Holz der Raiffeisen Ware Austria (RWA). Zur Förderung der Biodiversität werde auch verstärkt Augenmerk auf die Weiterentwicklung von Nischenkulturen wie Amaranth, Kichererbse, Linse und vielen weiteren Kulturen gelegt. Die Querschnittstechnologie Genome Editing/Gentechnik könne hierbei als „enabler“ angesehen werden.
Genome Editing bei Nutzpflanzen - Mögliche Risiken und Potenziale
Unter Genome Editing versteht man zielgerichtete Veränderungen des Genoms verschiedener Organismen. Da diese Methoden, insbesondere die CRISPR-Cas-Technik, relativ einfach bei vielen Pflanzenarten angewandt werden können, ist eine rasche Entwicklung unterschiedlichster Produkte möglich. „Derzeit gibt es in der EU noch keine Zulassung solcher Nutzpflanzen, auch weltweit werden erst einige wenige vermarktet. Genome Editing erlaubt auch komplexe Veränderungen im Erbgut und ermöglicht es, Pflanzen krankheitsresistent oder stresstolerant zu machen. Allerdings ist diese erhöhte Fitness der Pflanzen auch mit möglichen Umweltrisiken, wie einem erhöhten Auswilderungspotenzial, verbunden. Eine fundierte Risikoabschätzung ist daher auch bei diesen Pflanzen notwendig", sagte Andreas Heissenberger, Leiter der Abteilung Landnutzung & Biologische Sicherheit im Umweltbundesamt.
Ausreichende Selbstversorgung auch dank innovativer Züchtung
„Durch das von Bundesministerin Elisabeth Köstinger ausgebaute und international herzeigbare Private-Public-Partnership-Modell steht den Betrieben in Kombination mit unseren Versicherungslösungen ein Schutzschirm vor Wetterextremen zur Verfügung. Die Pflanzenzüchtung unterstützt durch Innovation und Forschung hin zu resistenteren Pflanzen die bäuerlichen Betriebe darin, auch weiterhin die Inlandsversorgung mit Lebensmitteln hochzuhalten. Die Saat auf ausreichend vorhandenen Agrarflächen ist der Grundstein einer erfolgreichen Ernte und letztendlich die Basis für unser tägliches Essen“, stellte Weinberger abschließend fest. Das Webinar zum Nachhören und die Präsentation zum Download sind unter https://www.hagel.at zu finden.